Das Ende der 1950er und der Beginn der 1960er bilden eine besonders
fruchtbare Phase im jungen Integrationsprozess, der die europäischen
Staaten nach zwei verheerenden Kriegen zu Frieden und Wohlstand führen
sollte. Auch die Schweiz war an den damaligen Weichenstellungen für die
politische und wirtschaftliche Zukunft Europas beteiligt, und zwar
beileibe nicht nur als passive Zuschauerin: 1948 Beitritt zur späteren
OECD, 1954 Mitgründung des CERN, 1960 Mitgründung der EFTA, 1963
Beitritt zum Europarat. Während letzterer als Forum
intergouvernementaler Koordination funktionierte, bildete die EFTA mit
ihrem Akzent auf dem Freihandel im Kern ein britisches Konkurrenzprodukt
zur EWG, die von Frankreich und Deutschland dominiert wurde. Die
Schweiz bewegte sich folglich ab Anfang der 1960er Jahre auf einem
europapolitischen Integrationspfad, der demjenigen seiner beiden
grössten Nachbarländer nur teilweise folgte. Im Unterschied zur EFTA,
legten die Mitgliedsländer der EWG rasch den Grundstein zu einem
Integrationsprozess, dem eine politische Dimension innewohnte. Ein
wichtiger Motor dieser Entwicklung stellte das deutsch-französische
Tandem dar, dessen fortschreitendes Näherrücken nicht nur die Briten vor
vollendete Tatsachen stellte, sondern auch die anderen Partnerländer
mitzog. Aber auch das bilaterale Verhältnis Deutschlands und Frankreichs
machte zu Beginn der 1960er Jahre einen qualitativen Sprung: Am 22.
Januar 1963 unterzeichneten Präsident Charles de Gaulle und
Bundeskanzler Konrad Adenauer im Pariser Elysée-Palast den symbolisch
bedeutsamen deutsch-französischen Freundschaftsvertrag und errichteten
damit einen Meilenstein der Versöhnungsarbeit und Kooperation zwischen
den beiden ehemals verfeindeten Staaten. Auch wenn viele der auf
politischer Ebene getroffenen Vereinbarungen und Massnahmen vorerst auf
den Bereich der Symbolpolitik beschränkt blieben, entstand über fünf
Jahrzehnte eine Dynamik, die in ihren Verhältnissen und in ihrem
Vermächtnis einmalig ist.
Gestützt auf diese Feststellungen lässt sich aus der
Aussenperspektive die Frage stellen, welche Position die Schweiz in
diesem Prozess der stetig intensiveren Verflechtung zwischen Frankreich
und der Bundesrepublik Deutschland einnahm und einnimmt. Teilt doch die
Schweizerische Eidgenossenschaft mit ihren beiden grossen Nachbarländern
nicht nur zwei ihrer Landes- und Amtssprachen, sondern auch eine
jahrhundertealte Tradition des kulturellen, wirtschaftlichen und
politischen Austauschs, der sich im Anschluss an den 2. Weltkrieg in
freundschaftlichen Beziehungen ausdrückte. Welchen Einfluss hatte das
Näherrücken der zwei ehemals verfeindeten Staaten auf die Schweiz? Wie
wurde die Intensivierung der bilateralen Beziehungen zwischen
Deutschland und Frankreich von der „offiziellen“ Schweiz beurteilt und
begleitet? Wie von der Zivilgesellschaft? Welche Rolle spielten
französische und deutsche Akteure in der Schweiz? Und umgekehrt: Wie
traten schweizerische Vertreter in den deutsch-französischen Beziehungen
auf? Wie verhielten sich amtliche Repräsentanten (Diplomaten,
Politiker), institutionelle Akteure (Kulturstiftungen,
Bildungseinrichtungen, Gewerkschaften, Jugendwerke) und Vertreter von
Wirtschaft und Zivilgesellschaft (Parteien, Vereine, Firmen,
Privatpersonen) im Verhältnis der Schweiz zu Deutschland-Frankreich?
Welche Dimensionen des deutsch-französischen Verhältnisses treten
zutage, wenn man mit der Schweiz einen a priori unbeteiligten, aber mit
den beiden Partnern eng verbundenen Drittstaat in den Blick rückt? Ein
Land, das zudem in der Nachkriegszeit den bewussten Entscheid fällte,
abseits der politischen Integration Europas zu bleiben? Inwiefern
verstärkte oder hemmte dieses multilaterale Abseitsstehen in der Schweiz
die bilaterale Zusammenarbeit mit den Nachbarländern Deutschland und
Frankreich (Italien und Österreich)? Gerade im bilateralen Bereich
bestand ja seit 1963 mit dem Elysee-Vertrag ein Vorbild, das sich der
Schweiz fast aufdrängen musste.
Der Bereich Europastudien der zweisprachigen Universität
Freiburg/Schweiz nimmt den 50. Jahrestag der institutionalisierten
deutsch-französischer Freundschaftsbeziehungen (1963-2013) zum Anlass,
sich mit den oben skizzierten und weiteren Fragen auseinanderzusetzen
und die Rolle, die die Schweiz in diesem Prozess spielte, näher zu
beleuchten. Unter dem Titel „Die Schweiz, Akteurin oder Zuschauerin der
deutsch-französischen Beziehungen“ findet am 11. und 12. Oktober ein
interdisziplinäres Kolloquium statt, in dessen Anschluss eine
Publikation zum Thema entsteht.
Das DFJW wird bei der Veranstaltung durch seine Generalsekretärin Béatrice Angrand vertreten.