Auch wenn man sagen kann, dass die Verbindung zwischen jungen Menschen und Bürgerschaftlichkeit bröckelt – sie werden auch nur selten von Medien eingeladen, um ihre Sicht zu äußern. Und nur wenige Polemiker suchen die wahren Gründe für dieses Desinteresse an der „res publica“ (dem Gemeinwesen). Angesichts dieser Tatsache ist es heute zwingend notwendig, das Verhältnis zwischen jungen Menschen und ihrer Bürgerschaftlichkeit neu zu denken. Dies, da bin ich mir sicher, geht nur über die Schule, in der ein Großteil der „Bürgerschaftsbildung“ stattfindet. Das DFJW hat sich in den letzten Jahren mehrfach des Themas angenommen und Podiumsdiskussionen organisiert sowie die politische Bildung durch deutsch-französischen Austauschprogramme gefördert. In diesem Artikel möchte ich hinterfragen, wie die Schule „Bürger erschafft“[1], und mehrere Verbesserungsmöglichkeiten vorschlagen, damit politische Bildung zu einem echten Hebel für den Wandel unserer Demokratien werden kann.
[1] Interessanter Artikel zum Thema (auf Französisch): Xypas, C. (2003). La construction à l’école d’une identité de citoyen : obstacles et condition. Le Télémaque, n° 23(1), 47-54. https://doi.org/10.3917/tele.023.0047.
Erziehung zur gelebten Bürgerschaftlichkeit
Bei „Erziehung zur Bürgerschaftlichkeit“ denkt man in Frankreich häufig zuerst an die schulische Moral- und Bürgerkunde, kurz EMC. In den letzten Jahren führte das Bildungsministerium eine tiefgreifende Reform des EMC durch, die ab dem Schuljahr 2025/2026 vollständig umgesetzt wird. Diese Reform umfasst neben inhaltlichen Änderungen auch innovative pädagogische Maßnahmen. Tatsächlich bleibt eines der Hauptprobleme des Moral- und Bürgerkundeunterrichts EMC sein starker top-down-Ansatz. Es muss klar sein: Bürgerschaftlichkeit muss aktiv sein, gelebt und praktiziert werden. Es ist nicht mehr denkbar, auf Programme zu setzen, in der Schüler nur als passiv angesehen werden. Die im neuen Lehrplan vorgesehene Einführung von Debatten, spielerischen Ansätzen sowie vermehrten Besuchen von Institutionen machen die Schüler zu Akteuren ihrer Bürgerschaftlichkeit. Dennoch gehen diese Schritte nicht weit genug. Ich bin überzeugt, dass die Moral- und Bürgerkunde gemeinsam mit den Schülern aufgebaut werden muss; was bedeutet, ausgehend von ihren Fragen die Stunden zu gestalten. Es ist daher interessant, sich Beispiele aus anderen Teilen Europa anzusehen. Bemerkenswert ist das deutsche Beispiel der politischen Bildung, da diese auf Mitgestaltung vom Kindergarten an beruht und eine echte Kultur des Austauschs zwischen Schülern und Lehrern schafft. Hervorheben möchte ich den Gedanken, dass die Rolle der Schule beim „Aufbau des Bürgers“ vor allem darin besteht, den jungen Menschen bewusst zu machen, dass sie keine bloßen Zuschauer, sondern Akteure ihrer Bürgerschaftlichkeit sind.
Die Bedeutung einer wirksamen schulischen Demokratie
Schüler als Akteure im Unterricht ist ein erster Schritt, Schüler als Akteure bei der Gestaltung der Bildung wäre der zweite. Die ewige Leier, die von vielen Politikern aufgegriffen wird, will glauben machen, dass Schüler in der Schule zu gehorchen haben ... Und nur zu gehorchen haben. Ich widerspreche dieser Sichtweise: Die Schüler verdienen eine aktive Rolle bei der Gestaltung des Bildungssystems. Es geht nicht darum, die Autorität der Lehrkräfte in Frage zu stellen, sondern darum, Schüler mit ihren Wünschen bezüglich des Bildungssystems zu Wort kommen zu lassen. In Frankreich wurde diese Mitsprache durch die Schaffung und den Ausbau einer schulischen Demokratie in den 1990er-Jahren konkretisiert (siehe Schema). Auch in Deutschland gibt es vielversprechende Initiativen in dem Bereich, etwa in Form der Bundesschülerkonferenz, die 2004 gegründet wurde und diverse Landesschülervertretungen zusammenbringt. Wie ich es bereits sagte: ohne Handlung keine Bürgerschaftlichkeit. Schulische Demokratie hat den großen Vorteil, dass dabei Schüler in der Bildungspolitik, die sie direkt betrifft, zu Akteuren werden. Allerdings nutzt das französische Bildungsministerium diesen Hebel nicht voll aus: Die institutionelle Kommunikation über die Mitbestimmung der Schüler bleibt begrenzt, Ausbildungen unzureichend, vor allem aber mangelt es an Wertschätzung für die gewählten Schülervertreter. Ganz entscheidend ist nun, ein neues Papier zur schulischen Demokratie mit neuen Zielen für das Bildungssystem zu beschließen: den Übergang vom Zuhören zum Handeln.[1]. Auch hier bietet sich ein Blick auf die Systeme unserer Nachbarn in Europa an. Das gilt vor allem für Österreich, mit einem System der schulischen Demokratie, das dem französischen weit voraus ist: Schülervertreter sind unmittelbar in die parlamentarische Arbeit eingebunden.
[1] Über ein solches Papier zur schulischen Demokratie schrieb ich vor einem Jahr in einem Gastbeitrag: https://cafepedagogique.net/2023/11/16/omaszower-pour-un-reel-plan-deducation-citoyenne/
Förderung des Austauschs auf europäischer Ebene
Schließlich möchte ich noch einen letzten Punkt ansprechen: das Schaffen von Räumen für den Austausch von Best Practices im Bereich Bürgerschaftlichkeit auf europäischer Ebene. Viele Länder in Europa haben Programme zur politischen Bildung, aber dennoch gibt es zu dem Thema nur wenig Austausch. Obwohl zum Beispiel mehrere europäische Länder Schülervertretungen haben, gibt es keine Bestrebungen, dass diese zusammenkommen. In Zeiten, in denen wir über den Aufbau einer europäischen Bürgerschaft sprechen, ist es dringend notwendig, Räume für Austausch zu schaffen – nicht nur auf Ebene der Ministerien, die für Themen der politischen Bildung zuständig sind, sondern auch zwischen den Schülervertretungen. So können gemeinsame Initiativen gefördert und Inspirationen bei anderen Systemen gefunden werden. Ich denke, dem DFJW kommt dabei, mindestens auf deutsch-französischer Ebene, eine wichtige Rolle beim Aufbau eines solchen Austauschs zu.
Dies sind drei Punkte, die mir für den Aufbau einer gelebten Bürgerschaftlichkeit in der Schule wichtig erscheinen: Mitgestaltung des Unterrichts in Moral- und Bürgerkunde, Stärkung der schulischen Demokratie und Schaffung von Räumen für Dialog auf europäischer Ebene. Sicher gibt es noch viel zu tun. Ich halte diese Punkte jedoch für realistisch und erreichbar. Aber dafür bedarf es den politischen Willen.
Nolan war gewählter Vertreter im Conseil Académique de la Vie lycéenne der Schulbehörde Aix-Marseille und als Schülervertreter im Conseil Supérieur de l'Éducation. Er war beteiligt an der Reform der Lehrpläne für Moral- und Bürgerkunde sowie an der Aufwertung des Engagements junger Menschen.