Geschichte und Europa als Schicksal
Meine Geschichte beginnt 1994 in einer Kleinstadt in der Normandie, nicht weit von den Stränden entfernt, an denen die Alliierten während des Zweiten Weltkriegs landeten. Von Kindesbeinen an vermischt sich meine persönliche Geschichte mit der Weltgeschichte, denn die Familiensaga nimmt bereits einen wichtigen Platz in meiner kindlichen Vorstellungswelt ein. Man muss dazu sagen, dass mein Vater gerne Geschichten erzählt.
Meine Lieblingsgeschichte ist die Hochzeit meiner Eltern: Sie war am 11. März 1989, in einem Europa, das noch vom Eisernen Vorhang zerrissen war. Meinem Vater war es dank der Unterstützung der Kommunistischen Partei Frankreichs gelungen, neun seiner Cousins aus Ostdeutschland einzuladen – eine administrative Meisterleistung!
Von allen Geschichten ist eine aber ganz besonders einprägsam: die meines deutschen Großvaters Klaus.
1942 wurde er im Alter von 17 Jahren für 6 Monate im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. Sein Verbrechen? Er hatte die Abschrift einer Predigt des katholischen Bischofs Clemens August von Galen verteilt. Darin sprach sich der Bischof gegen die Euthanasie-Morde im Rahmen der Aktion T4 aus, ein von den Nazis entwickeltes Programm zur Vernichtung von Menschen mit Behinderungen und Krankheiten.
Die Kindheit bleibt
Ich weiß nicht mehr, wann und wie ich auf diese Geschichte gestoßen bin. Vielleicht, weil sie im Hintergrund immer da war. Wir sprachen nur gelegentlich darüber, vor allem bei Verwandtenbesuchen in Deutschland, wenn mein Vater meinen Großvater nach seinen Erinnerungen an die Vergangenheit fragte.
Tatsächlich war Erinnerungsarbeit schon immer ein Teil meines Lebens. Bereits als Kind wusste ich viel über den Zweiten Weltkrieg, nahm regelmäßig an Gedenkveranstaltungen teil und hatte mit 10 Jahren bereits ein Konzentrationslager besucht.
Dennoch sprachen wir nie darüber, wie dieses Trauma unsere Familie beeinflusst hatte. Denn alles, was auch nur im Entferntesten mit Psychotherapie zu tun hatte, war sowohl meinen Eltern als auch meinen Großeltern völlig fremd. Sie wären nie auf die Idee gekommen, dass dieses Trauma von Generation zu Generation weitergegeben werden könnte – bis jemand den Kreislauf durchbricht.
Mit meinen 30 Jahren bin ich mir sicher: Ob man will oder nicht, man kann die Geschichte nie umschreiben. Man muss sich ihr stellen, denn auch wenn die Geschichte vor über 80 Jahren stattgefunden hat, trage ich sie noch immer in mir. Erst Jahre später begann ich, den Faden wiederaufzunehmen, um die Verbindung zwischen meiner persönlichen und der „großen“ Geschichte zu knüpfen.
Vom Echo der Vergangenheit zur Stimme der neuen Generationen
Im Herbst 2021, wenige Wochen nach dem Tod meines Großvaters, besuchte ich zum ersten Mal in meinem Leben die Gedenkstätte Sachsenhausen. Ich nahm an dem Symposium „Neue Generationen im Dialog, die Zukunft der Erinnerung“ teil.
Im Rahmen dieses Pilotprojekts konnte ich andere Nachkommen von Opfern des Nationalsozialismus kennen lernen und mich mit ihnen darüber austauschen, wie Erinnerungskultur neu aufgestellt werden kann.
Die Erinnerungsarbeit steht derzeit vor zwei großen Herausforderungen: Einerseits gibt es nur noch wenige direkte Zeitzeug:innen des Zweiten Weltkriegs, andererseits leben Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus in all ihren Formen wieder auf. Die Legitimität von Gedenkstätten wird in Frage gestellt, und das, was als historische Errungenschaft galt, wird heute angezweifelt.
Aus dieser Erkenntnis heraus entstand das Kollektiv „Voices of the Next Generations“, dessen Sprecherin ich nun bin. Wir sind uns unserer Verantwortung gegenüber unseren Vorfahren und der jungen Generation gleichermaßen bewusst. Wir möchten unsere Kräfte bündeln, um das Gedenken am Leben zu halten und Gedenkstätten wie in Sachsenhausen mit neuem Leben zu füllen.
Erinnern – immer und immer wieder
In Zeiten des „Rechts auf Vergessen“ mag dieses Engagement wie ein Kampf gegen Windmühlen erscheinen, denn in unserer Ökonomie der Aufmerksamkeit ist Empathie eine schwindende Ressource. Wer könnte besser für die Opfer und die kommenden Generationen sprechen als wir?
Manchmal ist diese Last unerträglich und ich wünschte, dass ich sie loswerden könnte. Ich bin übrigens die Erste, die zugibt, dass ich ohne diese Blutsverwandtschaft mit Sachsenhausen schon lange aufgehört hätte zu kämpfen. In solchen Momenten denke ich an das Versprechen „Nie wieder!“.
Für mich sind das keine leeren Worte, die man von einer Gedenkveranstaltung zur anderen herunterleiert, sondern eine moralische Richtschnur, die mich aufrecht stehen lässt. Denn wenn es etwas gibt, das wir aus dem Zweiten Weltkrieg gelernt haben sollten, dann ist es, dass die Menschenwürde unantastbar ist.
Mit meinem Engagement will ich eine Botschafterin sein, die Brücken zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft baut – um vielleicht eine menschlichere Welt zu schaffen, in der wir miteinander und füreinander leben. Das ist nicht viel, aber eigentlich ist es das schon, wenn man bedenkt, dass wir eigentlich nicht hätten überleben sollen.
Was nützt uns die Geschichte, wenn wir nie etwas aus ihr lernen? Diese Frage gehört zu den Leitgedanken des DFJW in den Bereichen Erinnerungsarbeit und die Friedenspädagogik – eine Aufgabe, die leider auch mehr als 60 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags nichts von ihrer Aktualität verloren hat.
Amélie ist gebürtige Deutsch-Französin und lebt seit fünf Jahren in Schweden. Sie engagiert sich seit vielen Jahren in der Zivilgesellschaft. Ihre bevorzugten Themen sind insbesondere die Jugend- und Erinnerungsarbeit im europäischen Kontext. Sie kennt das DFJW und seine Aktivitäten übrigens besonders gut denn bevor sie nach Nordeuropa kam war sie DFJW-Juniorbotschafterin, interkulturelle Jugendleiterin und BAFA-Juleica-Ausbilderin.