von Felix Wagenitz

Millionen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben seit 1963 durch das DFJW und andere Organisationen an Sprach- und Kulturaustauschprogrammen teilgenommen. Viele haben dabei prägende Lebenserfahrungen gesammelt, die zur Aussöhnung zwischen unseren Ländern beigetragen haben. Es ist also besonders die Jugend, die sich seit 60 Jahren in Bewegung befindet. Nur leider bei weitem nicht alle gleichermaßen. Denn noch immer existiert in Frankreich wie Deutschland eine besorgniserregende soziale Ungleichheit, die dazu führt, dass viele junge Menschen keinen Zugang zu solchen Freizeit- und Kulturangeboten finden.  

Ein defekter deutsch-französischer Gesellschaftsfahrstuhl

In Deutschland und Frankreich, den zwei größten Volkswirtschaften der Europäischen Union (EU), lebt heute jedes fünfte Kind in Armut. So waren 2022 in Frankreich etwa 17 % der Bevölkerung von Armut betroffen. Auch Deutschland hatte im selben Jahr durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie mit einer Armutsquote von 16,9 % einen traurigen neuen Höchststand erreicht. Währenddessen profitierten die reichsten Menschen in beiden Ländern beträchtlich von der Pandemie und konnten ihr Vermögen sogar ausbauen. Doch die Ungleichheit verschärft sich schon lange, insbesondere in den vergangenen 30 Jahren.

In der Konsequenz wird es zunehmend schwerer, die eigene Position im sozialen Gefüge zu verändern. Die OECD spricht auch von „sticky floors and sticky ceilings“. Es bedarf im Durchschnitt 6 Generationen, um in Deutschland oder Frankreich von einer Familie der unteren Einkommensklasse in die Mittelschicht „aufzusteigen“. In der EU liegt nur Ungarn mit 7 Generationen dahinter. Laurence Boone, die ehemalige OECD-Chefvolkswirtin und derzeitige französische Staatssekretärin für Europa, konstatierte daher für Frankreich: „[…] der soziale Fahrstuhl ist kaputt und das schon seit einiger Zeit“. Dasselbe könnte sie über Deutschland sagen.

Ungleichheit führt zu Ungerechtigkeit

Armut wirkt sozial ausgrenzend und stigmatisierend. Sie ist bei jungen Menschen oft mit Scham und psychischen Problemen verbunden und hat erheblichen Einfluss auf alle Lebensbereiche. Insbesondere beim Thema Bildung ist die Studienlage so eindeutig wie in kaum einer anderen sozialwissenschaftlichen Disziplin. Wer arm ist, hat bewiesenermaßen Nachteile in beiden Bildungssystemen. Und auch dieses Jahr unterstrichen die Chancenmonitorings in Deutschland und Frankreich dies wieder einmal auf drastische Art und Weise. Wer etwa in Deutschland qua Geburtslotterie in einer Familie mit geringem Einkommen aufwächst, in der die Eltern zudem kein Abitur haben, besucht nach der Grundschule nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 21,1 % ein Gymnasium. Dagegen liegt die Wahrscheinlichkeit bei 80,3 %, wenn beide Eltern Abitur haben und die Familie dem obersten Einkommensviertel zugeordnet werden kann.

Aufstieg durch Bildung - eine deutsch-französische Illusion

Bereits in den 1970er Jahren wies der französische Soziologe Pierre Bourdieu darauf hin, dass Menschen aufgrund von sozialer Klassenzugehörigkeit verschiedene Erfolgsaussichten im Bildungssystem haben. Er führte dies auf die unterschiedliche Ausstattung von Kapitalarten zurück, die maßgeblich den individuellen Bildungshabitus beeinflusst. Neben dem ökonomischen Kapital, der finanziellen Situation der Familie, und dem sozialen Kapital (umgangssprachlich auch Vitamin B genannt) schrieb Bourdieu dem kulturellen Kapital eine entscheidende Bedeutung für den Erfolg im Bildungssystem zu. Die Bildungsabschlüsse der Eltern und der Wert, den sie Bildung und Kultur beimessen, seien entscheidend für die Orientierung im Bildungssystem, das auf den legitimen Kulturvorstellungen der herrschenden Klasse basiere. Zudem argumentierte Bourdieu, dass sich mit einer Zunahme an Bildungsabschlüssen und Bildungsaufstiegen, die Bildungstitel (das kulturelle Kapital) allmählich entwerten würden. Diese Bildungsinflation wiederum erhöhe die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und erschwere es jungen Menschen aus Familien ohne akademischen Hintergrund, nach der Schule auch den Abschlüssen entsprechende Berufe zu finden. Denn zunehmend würden soziales und ökonomisches Kapital, die bei den oberen Klassen deutlich ausgeprägter sind, entscheidend für die Karriere. So erhöht etwa ein Auslandsaufenthalt oder ein besonderes Praktikum häufig die Erfolgsaussichten bei Bewerbungen. Chancengleichheit bleibt dadurch eine Illusion. Wenn Laurence Boone den sozialen Fahrstuhl also als defekt beschreibt, hätte Bourdieu ihr wahrscheinlich entgegnet, dass er niemals funktionstüchtig war.

Wir brauchen mehr Bewegung

Unsere Sozial- und Wohlfahrtssysteme sollten die Notwendigkeit für einen Fahrstuhl aber gar nicht erst entstehen lassen, indem sie Armut effektiver bekämpfen. Wir wissen um die beschriebenen Zusammenhänge schon zu lange und doch bewegt sich zu wenig. Wir brauchen deshalb gesamtgesellschaftliche Bewegungen in Deutschland und Frankreich, die finanzielle Umverteilung und radikale Bildungsreformen zusammendenken und endlich den notwendigen Veränderungsdruck auf die Politik ausüben. Gerade weil viele Junge Menschen aber auch von Armut betroffen sind oder durch Ausbildung, Studium oder (Neben-)Job kaum noch Zeit für Freunde und Familie finden, ist Engagement nicht immer einfach. Für diejenigen von uns, die sich für mehr Bewegung einsetzen können, bestehen meines Erachtens 3 Notwendigkeiten:

1. Gemeinsam laut werden

Armut und Chancenungleichheit sind politisch verursachte Probleme. Wie in der Klimaforschung existieren auch in der Armuts- und Bildungsforschung bereits seit Jahren Handlungsempfehlungen. Sie zeigen, wie ökonomische Ungleichheit reduziert und das Schulsystem chancengleicher reformiert werden kann. Statt solche Vorschläge umzusetzen, wird in Deutschland aber beispielsweise Hartz IV „reformiert“, ohne grundlegende Leistungsverbesserungen herbeizuführen. Es wird ein Mindestlohn beschlossen, der durch die Kriseninflation de facto einen Reallohnverlust für viele prekär Beschäftigte bedeutet. Oder es werden massive Einsparungen bei der Kindergrundsicherung in Kauf genommen, die eine effektive Armutsbekämpfung unmöglich machen. Es braucht daher junge Menschen, die die Kraft haben, solchen Maßnahmen laut zu widersprechen und Alternativen einzufordern. Existierende Protestbewegungen, politische Kampagnen, NGOs oder auch Gewerkschaften sind erste Anlaufstellen, um Aufklärungsveranstaltungen und Demonstrationen zu organisieren und gemeinsam laut zu werden. Aktuell laufen in Deutschland Verhandlungen über die Mittelvergabe des ab 2024 angekündigten Startchancenprogramms für benachteiligte Schulen. Ein konkreter Anhaltspunkt, um von Bund und Ländern eine chancengerechte Verteilung einzufordern!

2. Gemeinsam unterstützen

Unzählig viele Vereine und Wohltätigkeitsinitiativen sind in beiden Ländern bereits in der Armutsbekämpfung oder der freiwilligen Jugendarbeit aktiv. Sie füllen effektiv Lücken im Bildungs- und Wohlfahrtssystem und fungieren gewissermaßen als soziale Feuerwehr. Egal ob bei den „Restos du Cœur“, als Nachhilfelehrer*in oder Mentor*in vor Ort im Verein oder online aus der Ferne: Ehrenamtliches Engagement wird dringend benötigt. Als Mitgründer einer Stiftung für Chancengerechtigkeit in Berlin kann ich das nur bekräftigen. Engagement hilft nicht nur, sondern der zwischenmenschliche Kontakt verbindet und ist augenöffnend.

3. Gemeinsam sprechen  

Sprecht mit Freunden und Familie über das Thema, egal ob jung oder alt. Gerade mit Blick auf die anstehenden Europawahlen ist es wichtig, immer wieder sozial- und bildungspolitische Versäumnisse aufzuzeigen und über Wege zur Umsetzung von Alternativen nachzudenken.

Das DFJW hat diese Ungerechtigkeit erkannt und bemüht sich seit Jahren gemeinsam mit seinen Partner*innen wie den Netzwerken „Diversität und Partizipation“, gezielt benachteiligte junge Menschen anzusprechen – und das immer erfolgreicher. So haben seit 2020 ca. 20 % aller Programmteilnehmenden einen besonderen Förderbedarf. Doch kann eine gezieltere Kulturaustauschförderung einer zwischenstaatlichen Institution leider nicht die strukturellen Ungerechtigkeiten lösen, die in beiden Ländern noch immer einen großen Teil der Jugend betreffen. Dafür braucht es uns. Indem wir uns einbringen und organisieren, können wir beim nächsten Jubiläum vielleicht auf eine deutsch-französische Jugend blicken, in der sich auch alle in Bewegung befinden!

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Felix Wagenitz studiert im Master Politikwissenschaft, zur Zeit im Erasmussemester an der Sciences Po Paris im Schwerpunkt Sozialpolitik. Er hat 2019 gemeinsam mit anderen die Future Connect Foundation für mehr Chancengerechtigkeit gegründet und engagiert sich seit Beginn des Jahres auch im DFJW-Netzwerk Generation Europa für deutsch-französische Zusammenarbeit im Bereich Chancengerechtigkeit.

Felix Wagenitz
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