Einleitung

In diesem Text verstehen wir unter „darstellender Kunst“ Theater, aber auch ihm verwandte Bühnenkünste wie Pantomime, Tanz, Zirkus, Marionettentheater, Materialtheater usw. Unsere Beweggründe für diese Auslegung liegen in der Vielfalt, die aus der Verschiedenheit der Vorgehensweisen zu gewinnen ist, und in der Zunahme pluridisziplinärer Projekte, bei denen sich die Genregrenzen immer stärker auflösen.

Der Einsatz von darstellender Kunst als pädagogisches Hilfsmittel in den Bereichen Geschichte und Gedenken birgt zwei grundsätzliche Vorteile: Zum einen ermöglicht er eine dynamische Annäherung an die Vergangenheit, bei der die Teilnehmenden über das Artikulieren von Gedanken und Gefühlen stärker eingebunden werden (wobei allerdings Identifikationserscheinungen insbesondere mit Opfern von Konflikten oder Genoziden vermieden werden sollten). Zum anderen wird innerhalb der Begegnung wesentlicher Raum für Spiel, Bewegung und non-verbale Kommunikation geschaffen, was hilfreich im Kontext eines internationalen Treffens ist, bei dem die Teilnehmenden über keine oder begrenzte Kenntnisse der Sprache des Partnerlandes / der Partnerländer verfügen.

1. Zielgruppe

Es besteht keinerlei Anlass, pädagogische Projekte, bei denen darstellende Kunst zum Einsatz kommt, nur einer Elite zugänglich zu machen. Sie können unabhängig von Bildungsniveau oder sozioökonomischer Stellung mit jedem Publikum umgesetzt werden. Die Methodenwahl hingegen sollte auf Fähigkeiten und Bedürfnisse, Alter, Bildungsniveau, Sprachkenntnisse usw. der Teilnehmenden Rücksicht nehmen. Es gibt keine ideale Methode, die in allen Zusammenhängen zielführend wäre, sondern nur mehr oder weniger für diese oder jene Zielgruppe passende Herangehensweisen.

Vor dem Projektstart sollte man sich daher unbedingt ein Bild vom durchschnittlichen Niveau der Gruppe und vom Grad ihrer Homogenität machen. Auch die Motivationslage will berücksichtigt werden, denn man wendet sich nicht in gleicher Weise an die Teilnehmenden eines Treffens zum Thema Theater, bei dem ein Modul der Geschichte gewidmet ist, wie an die Teilnehmenden eines Treffens zum Thema Geschichte, bei dem ein Modul dem Theater gewidmet ist.

2. Die Rolle der GruppenleiterInnen

Das Leitungsteam hat mehrere Aufgaben:

  • im historischen Bereich zum Nachdenken darüber anzuregen, welche Botschaft man vermitteln will, und darauf zu achten, dass Fehlinterpretationen und Anachronismen vermieden werden (> Inhalt)
  • im künstlerischen Bereich den Teilnehmenden technisches Know-How an die Hand zu geben, mit dem sie ihre Idee gestisch und szenisch usw. umsetzen können (> Form)

Die hierfür erforderlichen Fähigkeiten kann eine einzelne Person in sich bündeln, häufig empfiehlt es sich aber, Tandems aus HistorikerInnen und KünstlerInnen oder eher aus historischen und künstlerischen VermittlerInnen zu bilden. In beiden Fällen muss / müssen der oder die GruppenleiterInnen ihre Flexibilität unter Beweis stellen und Erfahrungen in der Arbeit mit jungen Menschen mitbringen: ein/e promovierte/r HistorikerIn oder ein/e erfolgreiche/r RegisseurIn kann sich in der Praxis als ungeeignete/r Pädagoge / Pädagogin erweisen. Ein Projekt mit darstellender Kunst erfordert auch soziale Kompetenzen, denn die GruppenleiterInnen müssen stets ein offenes Ohr für die Teilnehmenden haben, durch wertschätzende Kommunikation ihr Selbstvertrauen stärken und ihnen nötigenfalls dabei helfen, ihre Hemmungen abzubauen.

Darüber hinaus ist im Kontext einer internationalen Begegnung eine gute Kenntnis der Kultur des Partnerlandes erforderlich, um interkulturelle und sprachliche Vermittlungsarbeit leisten zu können.

3. Der kreative Prozess

Der Umfang der Vorbereitungen ist vom einen pädagogischen Projekt zum anderen unterschiedlich. Eine Vorbereitungsphase ist schon allein hinsichtlich der Einplanung des benötigten Materials sinnvoll. Dabei ist es nicht wünschenswert, dass das Leitungsteam der Gruppe bereits ein zu weit in Einzelheiten ausgeführtes Drehbuch, Protokoll oder eine feststehende Inszenierungsform vorstellt, denn im Wesentlichen liegt der Mehrwert der künstlerischen Arbeit eben darin, dass sie an die Kreativität der Teilnehmenden appelliert. Eine Veranstaltung, bei der letztere nur Interpreten oder Ausführende wären, würde einen großen Teil ihres pädagogischen Wertes einbüßen.

Daher sollte die Projektvorbereitung zunächst darauf angelegt sein, der Gruppe Werkzeug an die Hand zu geben, um ihre kreativen Fähigkeiten freizusetzen. Zum Beispiel kann von einem Gegenstand ausgegangen werden, der mit der historischen Epoche zusammenhängt, um die es im Weiteren gehen soll, oder auch von einer Fotografie, einer Momentaufnahme, die die Teilnehmenden in einen Ereignisablauf einfügen sollen, indem sie die Lebensgeschichte der verschiedenen auf dem Bild dargestellten Personen erfinden oder herausfinden. Ebenso ist es denkbar, ihnen Texte wie etwa Zeitzeugenberichte oder literarische Werke anzubieten.

Das Zusammenspiel von Geschichte und Erinnerung mit darstellender Kunst kann in verschiedenen Strategien zum Tragen kommen.

  • Gearbeitet werden kann im Bereich der Fiktion oder der Rekonstruktion. Die Vorstellungskraft spielt in beiden Fällen eine unterschiedliche Rolle. Die Rekonstruktion historischer Fakten lässt der Fantasie der Teilnehmenden weniger Freiraum, dafür können diese aber die Rolle von Akteuren der Weltgeschichte aus ihrer eigenen Perspektive heraus spielen und sich so der Vergangenheit nähern. Ebenfalls denkbar sind Zwischenformen, bei denen beispielsweise unbekannte Hergänge um ein historisches Ereignis herum erfunden werden oder ein alternativer Hergang erdacht wird (was wäre passiert, wenn...)
  • Man kann sich auch dafür entscheiden, historische Figuren auftreten zu lassen, oder - im Gegenteil – Gesichtslose der Geschichte: Man konzentriert sich auf die in Geschichtsbüchern stehende Fakten (Versailler Vertrag, Konferenz von Jalta o.a.) oder auf das Leben der Bevölkerung zu einer bestimmten Zeit (Flucht und Auswanderung, Bombardements, Entbehrungen etc.). Die Schwerpunktsetzung auf öffentliche oder persönliche Geschichte eröffnet interessante, sich aber voneinander unterscheidende Denkfelder.

In beiden Fällen finden die kreativen Entscheidungen in einem von Selbst- und Fremdwahrnehmung geprägten kollektiven Rahmen statt. In der darstellenden Kunst geht es - Solos oder Monologe einmal ausgenommen – um die Interaktion Einzelner in der Gruppe, was als besonders reichhaltige Erfahrung erlebbar wird, wenn die betreffende Gruppe international zusammengesetzt und / oder multikulturell ist.

Hinsichtlich der Form kann man, abhängig vom Gruppenprofil, einer textbezogenen Theaterarbeit oder einer eher Choreografie-ähnlichen Inszenierungsform den Vorzug geben, sich für eine klassische Erzählungsform (Sketch oder Theaterstück) oder eine andere, eher in Richtung Performance oder Happening gehende Form entscheiden.

4. Bedingungen für die Aufführung

Für diesen wie auch für die vorgenannten Bereiche gibt es keine richtige oder falsche Strategie, sondern nur eine mehr oder weniger zu den Zielen des Treffens und der Zusammensetzung der Gruppe passende Wahl.

Manchmal ist es besser, keine Aufführung einzuplanen und die Arbeit auf eine Übung zu beschränken, deren Verlauf wichtiger ist als ihr Ergebnis. Bei dieser Alternative lässt sich der Druck vermeiden, der immer aufkommt, wenn ein Auftritt vor Publikum bevorsteht. Dennoch ist der Moment der Aufführung integraler Bestandteil des kreativen Prozesses und erlaubt häufig – selbst wenn dies von jedem / jeder verlangt, seine / ihre Scheu zu überwinden – den Teilnehmenden die Befriedigung darüber, ein Projekt von Anfang bis Ende durchgeführt zu haben.

Wenn eine Aufführung vorgesehen ist, kann diese stattfinden...

  • vor anderen Teilnehmenden des Treffens (vorausgesetzt, die Arbeit hat in kleinen Gruppen stattgefunden). Die Zuschauer sind dann gleichaltrige junge Menschen, die sich mit den gleichen Fragestellungen auseinandergesetzt haben.
  • vor außenstehendem Publikum. Lampenfieber oder Stress fallen dann für gewöhnlich stärker aus, denn die Zuschauer werden mit einem fertigen Ergebnis konfrontiert, ohne zwingend die Vorgeschichte zu kennen. Solange die Reaktion positiv ausfällt, ist die Erfahrung jedoch ungleich bereichernder. Im Übrigen erlaubt eine Aufführung vor Außenstehenden bei einer Veranstaltung mit einer politischen Dimension, die Botschaft(en) öffentlich zu formulieren, statt sich nur an die GruppenleiterInnen zu wenden.

Nicht minder wichtig ist die Frage des Aufführungsortes. Gespielt werden kann...

  • auf einer Bühne mit klarer Trennung von Bühne und Zuschauerraum, vor eigens für die Aufführung gekommenem Publikum.
  • im öffentlichen Raum, beispielsweise auf der Straße. Die Darbietung platzt dann in ein alltägliches Umfeld und wendet sich an Zuschauer, die à priori nicht zu diesem Zweck anwesend sind. Hierbei kann es sich um Aktionen aus dem Happening-Bereich handeln (wie beispielsweise das Verteilen von Flugblättern als Erinnerung an die Widerstandsaktionen junger Deutscher gegen die Nationalsozialisten im „Dritten Reich“).

Im Rahmen einer Geschichtsfortbildung kann man auch über die Nutzung historischer Stätten nachdenken (Ruinen, Denkmale, Gedenkstätten, Friedhöfe...). Allerdings birgt dies in der Praxis oft mehr Nach- als Vorteile, denn solche Orte „erdrücken“ die Kreativität der Teilnehmenden und übernehmen in gewisser Weise einen Teil der Arbeit, weil sie ein Stück der Bedeutung auf sich zurückleiten, was wiederum im Widerspruch zu den oben formulierten Zielen der Begegnung steht. Soll es um Theater gehen, ist es zweifellos besser, Bühnenbild, Kostüme und Requisite nur sehr sparsam einzusetzen, um sich auf das Spielen im Brechtschen Sinne zu konzentrieren.