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Durchschnittlich 74 Kilogramm Lebensmittelabfall fallen weltweit jährlich pro Privathaushalt an. Während andernorts Menschen an Hunger leiden, schmeißen wir unser Essen weg.

Ob abgelaufenes Mindesthaltbarkeitsdatum oder überschüssige Reste vom Vortag, auf die man keine Lust mehr hat - niemand gibt es gerne zu, doch noch viel zu oft werfen wir sinnlos Lebensmittel weg.

Lebensmittelverschwendung ist nicht nur ein ethisches, sondern auch ein ökologisches Problem, da die Herstellung von Lebensmitteln wichtige Ressourcen benötigt.

Die großflächige industrielle Landwirtschaft z. B. ist die Hauptursache für die Rodung des Regenwaldes und je mehr Wälder und Bäume für Futtermittel und Weideflächen abgeholzt werden, desto weniger CO2 kann abgebaut und O2 produziert werden. 
Die Regenwaldrodung verstärkt somit den Klimawandel, folglich bedeutet Klimaschutz auch, sich mit der immensen Lebensmittelverschwendung auseinanderzusetzen.

Mit der Gründung von Raupe Immersatt, Deutschlands erstem foodsharing-Café, ging eine Gruppe junger Menschen genau das an. 
Von der einstigen Idee bis hin zu einem der beliebtesten Cafés im Stuttgarter Westen: 
Myriam, eine unserer Juniorbotschafterinnen „Kommunikation”, hat sich mit dem Team von Raupe Immersatt unterhalten.

Wie kamt ihr zu foodsharing?

Ganz unterschiedlich: übers Containern (Weggeworfene, noch genießbare Lebensmittel zum Eigenverbrauch aus dem Abfallcontainer eines Supermarktes holen), durch persönliche Kontakte… In Stuttgart gibt es schon seit 2014 eine foodsharing-Regionalgruppe, in der sich das Gründungsteam kennengelernt hat.

Gab es einen Schlüsselmoment, der euch dazu bewogen hat, das Ganze größer zu machen und letztendlich ein Café zu gründen?

Es gab weniger den einen Schlüsselmoment, sondern stattdessen die immer stärker werdende Erkenntnis, dass das Retten allein die Lebensmittelverschwendung nicht lösen wird. Über die Jahre hinweg ließ sich nur selten beobachten, dass die Reste bei den foodsharing-Kooperationsbetrieben wirklich weniger wurden. Immerhin landeten sie nicht im Müll. Aber das Lebensmittelretten erschien uns nur als reine Symptombekämpfung und ist für die Mehrheit der Gesellschaft eher unsichtbar.

Das wollten wir ändern und das Thema Lebensmittelverschwendung raus aus dieser foodsharing-Blase und rein in die Öffentlichkeit tragen. Ein Café erschien uns dafür als passender Ort. Für viele sind wir auch einfach nur dieser Ort, an dem man leckere Getränke genießen kann und sich mit Freund*innen verabredet. Dass es kostenlos gerettete Lebensmittel gibt, ist für Leute, die zum ersten Mal kommen, dann manchmal erst mal irritierend. Dadurch regen wir zum Nachdenken an und die Leute fangen an, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Das passiert eher subtil und uns ist ungemein wichtig, dabei eben nicht diese „Zeigefinger-Attitüde“ an den Tag zu legen, sondern auf Augenhöhe zu sprechen und auf die gemeinsame Verantwortung für Lebensmittel zu verweisen.

Wurdet ihr anfangs mit bestimmten Hürden konfrontiert, die euch das Leben schwer gemacht haben?

Ohja! Unser Verein wurde bereits 2 Jahre vor der Eröffnung gegründet, in der Annahme, dass wir auch bald eröffnen können. Leider hat sich die Raumsuche über 2 Jahre erstreckt, da der Immobilienmarkt in Stuttgart wirklich katastrophal ist. Einmal waren wir kurz vor dem Aufgeben. Doch dann klappte es mit einem Mietvertrag und wir waren überglücklich. Endlich konnten wir loslegen und hatten noch dazu eine so wunderschöne Location in bester Lage am Hölderlinplatz. Der Rest lief dann tatsächlich bisher wie am Schnürchen, bis die Pandemie eintraf! Aber die Geschichte kennen wir ja alle zu Genüge...

Woher erhaltet ihr eure Lebensmittel und was bekommt ihr hauptsächlich geliefert?

Die meisten Lebensmittel stammen von Kooperationsbetrieben der Initiative foodsharing, die ehrenamtliche Lebensmittelretter*innen dort abholen und zu uns oder einem der anderen Fairteiler* in der Stadt bringen können. Unser Angebot variiert täglich und wir wissen daher nie, was genau so ankommt. Von Backwaren über Obst und Gemüse bis hin zu abgepackten Produkten, die teilweise das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) überschritten haben, ist alles dabei. Letztens hatten wir auch mal Gewürze von einem Delikatessenladen da. Oder Limonaden von einer Eventlocation, die aufgrund des Lockdowns keine Veranstaltungen mehr machen durften, aber noch ihr Lager gefüllt hatten. Es ist auch klasse, dass einige Lebensmittelbetriebe mittlerweile direkt auf uns zukommen und ihre Überschüsse selbst zu uns bringen, statt sie (was ja einfacher wäre) zu entsorgen. Auch Privatpersonen können ihre Reste bei uns abgeben.

Es gibt aus Lebensmittelhygiene-Sicht nur ein paar Ausnahmen von Lebensmitteln, die wir aus Sicherheitsgründen nicht teilen. Zum Beispiel Brühwurst, gekochten Reis, Speisen mit rohen Eiern... Das sind einfach Lebensmittel, die schneller verderblich sind und wir können die Lagerbedingungen (z. B. die Kühlkette) nicht nachvollziehen, wenn sie bei uns ankommen. Das macht es für uns dann unmöglich, die Genießbarkeit einzuschätzen, denn bei diesen Produkten merkt man nicht gleich anhand des Schmeckens oder Riechens, ob noch alles gut ist.

* Der Begriff „Fairteiler“ stammt aus dem foodsharing und steht für Orte, zu denen Menschen Lebensmittel bringen können, aber gleichzeitig auch mitnehmen dürfen. Der Fairteiler ist bei Raupe Immersatt direkt in das foodsharing-Café eingebunden: Lebensmittelretter*innen und Privatpersonen bringen ihre Überschüsse vorbei, diese werden dann zunächst einmal in Fairteiler-Boxen sortiert, zwischengelagert und schließlich nach und nach den Besuchern des Cafés kostenlos zur Verfügung gestellt.

Wie läuft ein typischer Besuch in der Raupe ab und wer sind eure Besucher?

Wir bieten feine Kaffee-Getränke, Tee und Schoki, Schorlen, Weine und Biere an der Bar an. Zusätzlich gibt es die Fairteiler-Wand mit geretteten Lebensmitteln, an der man sich frei bedienen und z. B. ein Croissant zum Cappuccino schnappen kann. Vor der Pandemie hatten wir auch regelmäßig Veranstaltungen organisiert. Es gab beispielsweise zahlreiche Konzerte, Lesungen, Filmabende, Vorträge, auch Bildungsformate ... Das gehört definitiv zum Raupe-Konzept und wir hoffen sehr darauf, das bald wieder hochfahren zu können.

Unser Publikum ist total divers und das ist auch genauso gewollt.

Denn Lebensmittelverschwendung betrifft alle Menschen gleichermaßen - es ist ein globales Problem. Von alt bis jung, Studis, Familien, Menschen mit viel oder wenig Geld, sie alle kommen zu uns - und das macht es auch so spannend: Wir haben es geschafft, ein Café zu schaffen, an dem super unterschiedliche Menschen in einem Raum zusammenfinden und wir dadurch Vorurteile abbauen können. Unser solidarisches Preiskonzept, bei dem jede*r den Preis für ein Getränk selbst bestimmt, bietet dafür die Grundlage. Außerdem ist uns ja auch wichtig, nicht nur die Menschen anzusprechen, die ohnehin schon achtsam mit ihren Lebensmittelresten umgehen oder bei foodsharing sind. Wir wollen das Thema Lebensmittelverschwendung ins kollektive Bewusstsein rufen, dafür sensibilisieren und uns fragen, wie wir das als Gesellschaft gemeinsam angehen können.

Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf euer Café?

Als wir im ersten Lockdown schließen mussten, war das schon ein ganz schön großer Einschnitt. Wir hatten ja noch nicht einmal ein Jahr bis dahin geöffnet und wussten nicht so recht, wie lange das dauern würde. Schnell sind wir dann aber auf die Idee gekommen, eine Art Kiosk zweimal die Woche für Getränke und Kaffee einzurichten. Das kam super an und die Solidarität unserer Gäste war enorm. Da trotzdem noch Kapazitäten frei waren, hat sich ein Teil unseres Teams parallel einem neuen Projekt gewidmet: Für mehrere Wochen haben wir die "Soli-Küche" organisiert und an den Wochenenden 30-40 vegan-vegetarische Mahlzeiten pro Tag aus frischen Bio-Lebensmitteln gekocht. Die sind wir dann klimafreundlich mit dem Lastenrad ausgefahren und haben sie an Menschen mit Bedürftigkeit verteilt.

Irgendwann im Mai durfte das Café dann wieder regulär öffnen und wir hatten einen gigantischen Sommer: Jeden Abend war der Außenbereich voll und die Leute haben uns signalisiert, dass sie das scheinbar feiern, was wir da machen! Das hat uns auf jeden Fall extrem gefreut und auch geholfen, einen guten Puffer aufzubauen, der uns jetzt im zweiten Lockdown zugutekommt.

Im November sind wir dann wieder in den Kiosk gewechselt, diesmal aber an 6 Tagen pro Woche. Uns war wichtig, die festangestellten Mitarbeiter*innen weiter beschäftigen und bezahlen zu können. Das klappt momentan auch und es geht uns den Umständen entsprechend ganz gut. Trotzdem sind die Gästezahlen und Einnahmen natürlich nicht vergleichbar mit davor. Wir nehmen die Lage sehr ernst, trotzdem fiebern wir natürlich der Wiedereröffnung sehnsüchtig entgegen.

Unser Nachbarland Frankreich ist das erste Land weltweit, das Lebensmittelverschwendung unter Strafe gestellt hat. Während das Spenden von Lebensmitteln dort Pflicht ist, mangelt es uns in Deutschland an entsprechenden Gesetzen. Im Gegenteil, das „Containern“ gilt bei uns als Diebstahl und ist somit illegal. Woran scheitert es bei uns und was erhofft ihr euch zukünftig von der Gesetzeslage in Deutschland?

Wir vermuten, dass es eine zu große Lobby des Einzelhandels und der großen Lebensmittelkonzerne gibt, die sich dagegen wehren. Die Politik kommt dem bisher nicht nach und wälzt die Verantwortung auf die Endverbraucher*innen ab. Sie hofft, dass sich das Problem durch Freiwilligkeit löst. Wir als Verein glauben, es braucht ein Zusammenspiel aller Ebenen, um die Lebensmittelverschwendung nachhaltig zu beseitigen.

  • Die Politik muss die gesetzlichen Grundlagen vorgeben, anders wird sich nie etwas ändern.
  • Die Lebensmittel- und Agrarbetriebe sollten selbstbewusst auch "unperfekte", aber genießbare Produkte verkaufen. Obst und Gemüse muss in der EU einer gewissen Norm entsprechen, sonst wird es bereits bei der Ernte, spätestens im Handel aussortiert - obwohl ein Großteil davon noch tadellos ist und gegessen werden könnte.
  • Der Handel muss eine ernsthafte Bereitschaft zeigen, sich um die Vermeidung der Überschüsse durch genauere Kalkulationen zu kümmern - es braucht ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage statt eines übertriebenen Überangebots. Und auch die Organisation zur Verteilung der Überschüsse liegt in seiner Verantwortung.
  • Und schließlich müssen auch wir Konsument*innen uns fragen: Brauchen wir kurz vor Ladenschluss der Bäckerei wirklich noch die volle Sortimentsauswahl? Oder können wir auch einfach ein Brot vorbestellen, um es dann nach Feierabend abholen zu gehen und der Bäckerei dadurch eine bedarfsorientierte Produktion mit weniger Abfällen zu ermöglichen?

Vieles liegt auch an uns selbst und kann sich mit etwas mehr Bewusstsein im Alltag lösen, aber die Debatte würde massiv in eine andere Richtung gelenkt werden, wenn die Politik endlich handeln würde!

Was sind eure Tipps und Tricks für jedermann, um das Wegwerfen von Lebensmitteln zu vermeiden?

Da gibt es einiges ... Wichtig ist als Erstes so vorausschauend wie möglich einzukaufen - damit lassen sich viele Überschüsse von vorneherein schon vermeiden. Dann ist die Lagerung der Lebensmittel zentral: Bananen werden neben Äpfeln z. B. schneller braun, weil die Äpfel ein Reifegas ausströmen. Andere Dinge, wie z. B. Wurzelgemüse (Karotten, Pastinaken ...) oder Salat lassen sich wieder auffrischen, auch wenn sie nicht mehr so ansehnlich wirken. Karotten und Pastinaken kann man beispielsweise einfach für ein paar Stunden in kaltes Wasser legen, dann werden sie wieder knackig. Salat wiederum gehört in ein feuchtes Tuch eingewickelt in den Kühlschrank - so hält er sich deutlich länger und wird nicht so schnell welk. Es gibt unendlich viele Tricks, mit denen private Lebensmittelabfälle reduziert werden können. Erstaunlich ist, dass vieles davon heute nicht mehr so bekannt ist. Das wollen wir auch ändern!

Für alle aus Stuttgart und Umgebung:

Obwohl der reguläre Café-Betrieb aktuell nicht möglich ist, hat Raupe Immersatt zur Zeit täglich (außer dienstags) von 10 -19 Uhr im Kiosk geöffnet. Schaut gerne vorbei!
Für mehr Informationen: https://www.raupeimmersatt.de/.